(Letzte Aktualisierung: 14.03.2021)
Weil Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Praxis so große Bedeutung hat und viele Details hierzu wichtig sind, haben wir auf dieser Seite noch einmal Fragen und Antworten zu dieser Thematik zusammengestellt.
Inhalt
Zugang zu einem Gericht
Wie muss der Staat den Zugang zum Gericht sicherstellen?
Der Staat ist verpflichtet einen Rechtsweg zur Verfügung zu stellen und die Gerichte so auszustatten, dass sie für effektiven Rechtsschutz sorgen können. Auf welche Weise dies genau geschieht, ist Sache des Staates.
Welche Kompetenzen muss das Gericht haben?
Das Gericht muss die Möglichkeit haben, die gesamte Rechtssache zu überprüfen. Das umfasst den Sachverhalt und die Rechtsfragen.
Besteht ein Recht auf ein Rechtsmittel?
Grundsätzlich nicht.
Art. 6 EMRK garantiert das Recht, vor ein Gericht zu ziehen. Gegen das Urteil muss aber kein Rechtsmittel gegeben sein. Es gibt „Rechtsschutz durch den Richter“, aber keinen „Rechtsschutz gegen den Richter“.
Eine Ausnahme besteht aber im Strafverfahren. Hier ist durch Art. 2 des Zusatzprotokoll Nr. 7 eine Rechtsmittelinstanz zwingend vorgesehen. Dieses hat die Bundesrepublik aber noch nicht ratifiziert.
Besteht ein Recht auf eine Rechtsmittelbelehrung?
Grundsätzlich nicht, es ist eine eigene Obliegenheit des Bürgers, sich über seine prozessualen Rechte zu informieren und ggf. einen Anwalt hinzuzuziehen. Nur, wenn das Rechtsmittelsystem undurchschaubar ist oder eine unrichtige Belehrung erteilt wird, kann es sich um eine Verhinderung des Zugangs zum Gericht handeln.
unabhängiges Gericht
Wann ist ein Gericht unabhängig?
Die Unabhängigkeit des Gerichts muss sich auf die Regierung und die politischen Akteure im Staat (insb. Parteien) beziehen. Die Richter dürfen auch nicht in eine Diensthierarchie integriert sein, in der der Inhalt ihrer Urteile über ihren Verbleib oder über ihre Aufstiegschancen entscheidet.
Ist die Zuziehung von Berufskollegen als Beisitzer zulässig?
Im Rahmen der Berufsgerichtsbarkeit ist es üblich, dass Kollegen an der Urteilsfällung beteiligt sind. Dies ist grundsätzlich nicht zu beanstanden, da es einen besonderen Sachverstand in das Verfahren bringt.
Allerdings muss sichergestellt sein, dass diese Beisitzer in ihrer Entscheidung unabhängig sind.
Wann ist ein Richter als parteiisch anzusehen?
Auch die EMRK kennt die Besorgnis der Befangenheit, also den Verdacht, dass ein Richter nicht unparteiisch ist, sondern eine Voreingenommenheit gegenüber eine Partei hegen könnte. In diesem Fall ist auch das Menschenrecht auf ein faires Verfahren betroffen.
Mehr dazu: Befangenheitsanträge vor dem EGMR
gesetzlich vorgesehenes Gericht
Was muss das Gesetz hinsichtlich des Gerichts regeln?
Gesetzlich geregelt muss sein:
- Die Einrichtung des Gerichts, dass es ein bestimmtes Gericht also überhaupt gibt.
- Die Zusammensetzung des Gerichts, also welche Richter es dort geben muss und wie viele Personen am Prozess beteiligt sind.
- Die Zuständigkeit, also welche – nach objektiven Kriterien festgelegten – Verfahren das Gericht entscheiden muss.
faires Verfahren (im engeren Sinne)
Was bedeutet Waffengleichheit?
Als Waffengleichheit bezeichnet man die Gleichheit der Befugnisse der Beteiligten an einem Gerichtsverfahren. Alle Parteien (insbesondere auch der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft in einem Strafverfahren) müssen gleichen Zugang zu Akten und Beweismitteln haben. Außerdem muss sichergestellt sein, dass jeder Beteiligte Anträge stellen und seine Sicht der Dinge darlegen kann.
öffentliche Verhandlung
Wann liegt eine öffentliche Verhandlung vor?
Eine öffentliche Verhandlung ist eine solche mit Zuschauern. Öffentlichkeit bedeutet, dass prinzipiell jeder Zugang zur Verhandlung hat.
Daraus folgt denknotwendig, dass die Verhandlung auch mündlich stattfindet. Bei einer rein schriftlichen Verhandlung sind Zuschauer nicht vorstellbar.
Kann auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden?
Das kommt darauf an.
Allgemein wird davon ausgegangen, dass in mindestens einer Instanz eine mündliche Verhandlung notwendig ist. Dies schließt aber nicht aus, dass im Eilverfahren sowie in Rechtsmittelinstanzen im schriftlichen Verfahren entschieden wird.
Sofern es nur eine Instanz gibt, muss in dieser normalerweise eine mündliche Verhandlung stattfinden. Ausnahmen hiervon gibt es lediglich in Fällen, in denen sämtliche zu entscheidenden Fragen rein rechtlicher oder technischer Natur sind. Soweit es aber um Tatsachenfragen oder um Ansichten der Beteiligten geht, müssen die Prozessordnungen zwingend eine mündlicher Verhandlung vorsehen.
Kann die Nichtöffentlichkeit in der Rechtsmittelinstanz geheilt werden?
Das kommt auf die Ausgestaltung der Rechtsmittelinstanz an.
Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass dies nur bei vollständiger Wiederholung der Verhandlung möglich ist. Nur, wenn das Rechtsmittelgericht die gesamte Beweisaufnahme in öffentlicher Verhandlung erneut vornimmt, ist dies ausreichend. Sofern das Gericht aber auf bestimmte Punkte beschränkt ist oder Beweise aus der Vorinstanz übernimmt, ist der Öffentlichkeitsgrundsatz verletzt.
schnelles Verfahren
Wann liegt eine überlange Verfahrensdauer vor?
Das kann man nicht allgemein sagen. Es muss jedenfalls ein grobes Missverhältnis zwischen der Komplexität des Verfahrens und seiner Dauer vorliegen. Grob kann gesagt werden, dass erst ein jahrelang hinausgezögertes Verfahren überlang sein kann. Eine feste Grenze oder genauere Berechnungsregeln gibt es aber nicht.
Wie wird die Verfahrensdauer berechnet?
Als Verfahren wird nicht nur der Gerichtsprozess als solcher gewertet, sondern ebenso jedes vorangehende staatliche Verfahren. Das kann im Verwaltungsrecht das behördliche Entscheidungs- und Widerspruchsverfahren sein, im Strafrecht auch das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren.
Wie muss der Staat für eine überlange Verfahrensdauer entschädigen?
Grundsätzlich muss die Entschädigung durch materiellen Schadenersatz, also durch eine Geldzahlung erfolgen. In Strafverfahren wird die Verfahrensdauer auf die verhängte Strafe angerechnet werden.
Eine Aufhebung des Urteils kommt aber – im Gegensatz zur Verletzung anderer EMRK-Rechte – regelmäßig nicht in Betracht. Denn die Aufhebung würde das geschehene Unrecht ja nicht beseitigen, sondern verstärken, wenn die Sache dann erneut verhandelt werden muss.
öffentliche Urteilsverkündung
Muss das Urteil zwingend öffentlich verkündet werden?
Grundsätzlich schon. Auch, wenn aus vernünftigen Gründen die Öffentlichkeit im Verfahren ausgeschlossen wurde, muss sie für das Urteil zugelassen werden.
Ausnahmen werden nur anerkannt, wenn gerade die Bekanntgabe des Urteils aufgrund überragend bedeutender Gründe verhindert werden soll. Dies ist bspw. bei Jugendstrafverfahren der Fall, weil verhindert werden soll, dass ein Jugendlicher als Straftäter dargestellt wird.
Gibt es ein Recht, das schriftliche Urteil einzusehen?
In aller Regel ja.
Da die mündliche Urteilsverkündung meist lediglich eine verkürzte Zusammenfassung darstellt, muss es auch diese Möglichkeit geben. Zur Öffentlichkeit der Urteilsverkündung gehört auch das Recht, sich vom gesamten Inhalt des Urteils überzeugen zu können.
Ob die deutsche Rechtspraxis, dass Urteile nur bei besonderem Interesse vom Gericht angefordert werden können, EMRK-gemäß ist, ist zumindest umstritten.
Unschuldsvermutung
Wann gilt die Unschuldsvermutung?
Die Unschuldsvermutung gilt in jedem Strafverfahren, und zwar vom Ermittlungsverfahren bis zur rechtskräftigen Verurteilung.
Folgt aus der Unverschuldsvermutung auch eine Beweislastverteilung?
Ja. Da der Angeklagte zunächst als unschuldig angesehen wird, muss die Staatsanwaltschaft beweisen, dass das Gegenteil der Fall ist.
Gegen wen gilt die Unschuldsvermutung?
Grundsätzlich müssen nur staatliche Stellen von der Unschuld des Beschuldigten bzw. Angeklagten ausgehen. Sie dürfen sich also nicht dahin gehend äußern, dass jemand als schuldig angesehen wird.
Gegenüber Privatpersonen gilt dies aber nicht, diese dürfen grundsätzlich ihre Ansicht äußern, dass sie jemanden für schuldig halten. Hier wird es jedoch regelmäßig auf die genaue Formulierung ankommen, ob nicht eine Beleidigung oder ggf. üble Nachrede nach nationalem Recht vorliegt.
Darf das Bestehen eines Tatverdachts geäußert werden?
Das kommt darauf an. Es ist zu unterscheiden:
- Im laufenden Verfahren darf (und muss) die Staatsanwaltschaft zugrunde legen, dass ein Tatverdacht besteht. Dies ist nicht zu beanstanden.
- Nach einer Verfahrenseinstellung darf das Fortbestehen eines Verdachts geäußert werden, allerdings muss klar gemacht werden, dass keine Schuld festgestellt wurde.
- Nach einem Freispruch ist der angeklagte Sachverhalt als nicht zutreffend zu unterstellen. Dies gilt auch, wenn „im Zweifel für den Angeklagten“ freigesprochen wurde.
Unterrichtung über die Beschuldigung
Wie detailliert muss der Beschuldigte über die Beschuldigung unterrichtet werden?
Ihm muss grundsätzlich die gesamte Tatsachengrundlage, von der die Staatsanwaltschaft ausgeht, dargelegt werden. Ebenso muss ihm erklärt werden, welche rechtlichen Schlüsse daraus gezogen werden.
Ist die Unterrichtung in der Hauptverhandlung ausreichend?
Grundsätzlich muss die Unterrichtung im Ermittlungsverfahren oder in der Anklageschrift erfolgen.
Eine (ggf. ergänzende) Aufklärung in der Hauptverhandlung ist nur ausreichend, wenn der Angeklagte diese Informationen auch unproblematisch entgegennehmen kann. Das dürfte nur der Fall sein, wenn de Sachverhalt leicht zu überblicken und auch für den Laien zumindest im Groben juristisch einzuschätzen ist.
Vorbereitung der Verteidigung
Welche Zeit ist für die Vorbereitung der Verteidigung ausreichend?
Das hängt ganz vom Umfang des Verfahrens ab. Normalerweise reichen einige Tage, in komplexen Verfahren kann aber auch einmal ein Monat nicht ausreichend sein.
Woran wird die notwendige Vorbereitungszeit gemessen?
Die Vorbereitung der Verteidigung soll die Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung sicherstellen. Daher muss die Zeit ausreichen, um den Sachstand erfassen zu können und eigene Argumente vorzubereiten.
Gibt es ein Recht auf Akteneinsicht?
Ja. Ohne Kenntnis der Ermittlungsakten ist eine Verteidigung kaum möglich.
Verteidigung, auch durch einen Anwalt
Verstößt ein Anwaltszwang gegen Art. 6 EMRK?
Nein.
Für das Zivil- und Verwaltungsrecht gibt es von vornherein keine Regelung in der EMRK, die den Anwaltszwang untersagt.
Für das Strafverfahren heißt es Art. 6 Abs. 3 lit. c), dass der Angeklagte das Recht hat, „sich selbst zu verteidigen“. Das bedeutet aber nur, dass er berechtigt ist, für sich selbst zu sprechen. Dass daneben auch noch die Mitwirkung eines Verteidigers vorgeschrieben ist, der zusätzlich für die Verteidigung sorgt, verstößt nicht gegen das Recht der Selbstverteidigung.
Benennung und Befragung von Zeugen
Wer ist Zeuge im Sinne von Art. 6 EMRK?
Jeder, der durch seine Aussage auf das Urteil Einfluss nehmen kann. Also neben klassischen Zeugen auch der Nebenkläger, Mitangeklagte und Sachverständige.
Darf die Ladung von Zeugen abgelehnt werden?
Ja, sofern das Gericht davon ausgehen kann, dass diese keinesfalls etwas zum Prozess beitragen können. Insoweit ist der Angeklagte in der Pflicht, darzulegen, welchen Beweiswert er sich von der Aussage erhofft.
Dolmetscher
Inwieweit gilt das Recht auf einen Dolmetscher?
Grundsätzlich im gesamten Verfahren, auch bereits im Ermittlungsverfahren. Der Beschuldigte muss auch ohne Sprachkenntnisse in der Lage sein, das Verfahren verfolgen zu können.
Müssen auch Schriftstücke übersetzt werden?
Grundsätzlich ja, allerdings nur, soweit sie für das Verständnis der Beschuldigung relevant sind.
Dürfen die Dolmetscherkosten von Verurteilten verlangt werden?
Nein, die EMRK ordnet insoweit die Kostenübernahme durch den Staat an.